USA-Weißes Haus befürchtet nach Prognose bis zu 240.000 Tote HIER
Mehr als 20 Millionen Coronainfektionen Washington. Die Zahl der weltweit bekannten Coronainfektionen ist innerhalbvon weniger als drei Wochen von 15 Millionen auf über 20 Millionengestiegen. Das ging am Montag (Ortszeit) aus Daten derJohns-Hopkins-Universität in Baltimore hervor. Etwa die Hälfte der bestätigten Fälle entfielen demnach auf nur drei Länder: die USA mit mehr als fünf Millionen Infektionen, Brasilien mit über drei Millionen und gut zwei Millionen in Indien. Die Zahl der weltweit bestätigten Infektionen stand Ende Juni noch bei zehn Millionen und hat sich damit innerhalb von rund sechs Wochen verdoppelt. Weltweit sind bislang mehr als 730.000 Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert waren, gestorben.
Bundesdeutsche Bildungsreformen: Marx statt Rechtschreibung 1970 vergab das hessische Kultusministerium den Arbeitsauftrag, so bald wie möglich lernzielorientierte Richtlinien vorzulegen. Resultat war der fortschrittlichste Bildungsplan der BRD Von Sven Gringmuth in der jW
Was haben Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Wilhelm Reich, Otto Rühle, Erika Runge, Elmar Altvater, Edwin Hörnle, Otto Bauer, Marianne Herzog, Peter Brückner, Alexander Mitscherlich, Wolfgang Fritz Haug, Theodor W. Adorno, Wolfgang Abendroth, Günter Wallraff, Ernest Mandel, Hans Magnus Enzensberger, Siegfried Kracauer, Bernt Engelmann, Alice Salomon und Sigmund Freud gemeinsam? Einige Antworten hierauf sind wohl möglich, aber nur eine erstaunt vermutlich in besonderem Maße: Sie und ihre Werke finden sich in den Materialhinweisen für Lehrerinnen und Lehrer der Hessischen Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre von 1972 und und wurden den Pädagogen dort als geeignete Lektüre im, beziehungsweise zur Vorbereitung des Fachunterrichts anempfohlen. Wie bitte? Richtig gelesen! Im Folgenden sei an den wohl fortschrittlichsten Bildungsplan in der Schulgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erinnert.
Politischer Hintergrund Die Bildungsreform kann als Kern- und Herzstück der sozialdemokratischen Reformzeit 1969 bis 1972 unter Kanzler Willy Brandt gelten. Weit mehr als die Wahlrechts- oder Strafrechtsreform, mehr als die Jugendfürsorgereform oder das Vorantreiben der betrieblichen Mitbestimmung war sie zudem getragen von relevanten Teilen der Protestbewegung der Jahre 1966 bis 1968, der ehemaligen Außerparlamentarische Opposition (APO). Nicht wenige der vorwiegend studentischen Aktivisten waren auf ihrem Marsch in und durch die Institutionen recht schnell in Richtung SPD abgebogen. Dort waren die sozialistischen Jungakademiker als Juso-Funktionäre und Nachwuchs-Staatssekretäre bald im Gefolge der Parteigliederungen und Ministerien in die Parlamente, Büros und Thinktanks der Sozialdemokratie eingezogen und sorgten dort – mal mehr, mal weniger, dies hing stark von Region und den Möglichkeiten vor Ort ab – für eine Redynamisierung der Debatte um eine radikale Bildungsreform in den Ländern.
Der sozialdemokratische Kultusminister Hessens, Ludwig von Friedeburg, gab selbst die Richtung vor, in der die zu jenem Zeitpunkt immer noch gültigen Lehrpläne des Jahres 1957 nicht zu überarbeiten, sondern vollkommen zu verwerfen und durch neue Bildungspläne zu ersetzen seien: »Oberstes Lernziel der in Hessen vorgelegten Bildungspläne ist die ›Selbst- und Mitbestimmung‹. Die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre fassen es in die Worte, ›den Schüler zur Teilnahme an der produktiven Gestaltung gesellschaftlicher Realität zu befähigen‹ und bezeichnen damit ein Lernziel, das für das Fach Gesellschaftslehre in besonderem Maße gilt, aber zugleich fächerübergreifend grundlegendes Ziel einer Erziehung zum mündigen Bürger ist. Dieses Lernziel ergibt sich aus den grundlegenden Werten, die die Verfassung unserer demokratischen Ordnung (…) bestimmen. Loyalität zum Grundgesetz als zentraler Ausgangspunkt der Bestimmung meint, das Grundgesetz ernst nehmen, indem die Verfassungswirklichkeit am Grundgesetz gemessen wird. Dass damit ein grundsätzlicher Ausgangspunkt für die gesamte Lehrplanarbeit bezeichnet ist, wird deutlich, wenn man einen Satz wie diesen: ›Optimale Teilhabe des einzelnen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ist an die Aufhebung ungleicher Lebenschancen geknüpft‹ auf die Unterrichtspraxis selbst bezieht«.¹ Ein so banaler wie radikaler Gedanke, den Abgleich zwischen dem, was im Grundgesetz geschrieben steht, und den eigenen Eindrücken, Erfahrungen, der eigenen realen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu wagen – und dies auch noch im Unterricht zu diskutieren! xxxxx Verspäteter Gegenwind Die Gegner hatten zunächst offenbar nicht genau hingehört, denn die neuen Rahmenrichtlinien, vorerst für die Fächer Gesellschaftslehre – eine Zusammenführung der Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde – und Deutsch lagen zu Beginn des Schuljahres 1972/73 vor. Sie hatten da bereits ein Anhörungsverfahren durchlaufen und waren von Eltern-, Schüler- und Lehrervertretungen ohne Einsprüche akzeptiert worden: »Auch als die Richtlinien mit der beginnenden Erprobung in sehr viel mehr Hände kamen und in den Schulen praktisch umgesetzt wurden, regte sich kaum Kritik. Es war schon fast ein halbes Schuljahr vergangen, als die (…) FDP im Landtag eine große Anfrage zu den neuen Rahmenrichtlinien einbrachte, die auch kritische Fragen enthielt. Damit kam die bis dahin auf diesem Feld nicht sehr wachsame Opposition in Bewegung. (…) Binnen weniger Wochen wurde die unverzügliche Rücknahme der Richtlinien zum Hauptthema der Landespolitik. (…) Allein im dem Jahr nach der ersten Landtagsdebatte musste sich das Parlament in nicht weniger als elf seiner 25 Sitzungen mit den Richtlinien befassen«.² Die Hessen-CDU begann, unterstützt von anderen Landesverbänden, den ihr nahestehenden Verlagen und Medien (von Gerhard Löwenthal bis zur FAZ) sowie den finanziell gut gerüsteten und über viele Kontakte verfügenden Eltern im »Hessischen Elternverein«, die zudem immer stärker auf Aktionen gegen die »Roten Richtlinien« wie auch gegen die Gesamtschule als Regelschule drängten, eine bildungspolitische Mobilmachung auf zahlreichen Ebenen.
Damit bekamen die Richtlinien für die linke Hessen-SPD eine derart exponierte politische Bedeutung, dass an eine Rücknahme nicht mehr zu denken war – es konnte nur noch in die Offensive gehen. In diesem Sinne veranstaltete der Bundesverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am 14. Mai 1973 die vielbeachtete Tagung »Was sollen Schüler lernen? Die Kontroverse um die Hessischen Rahmenrichtlinien für die Unterrichtsfächer Deutsch und Gesellschaftslehre«, an der, neben Kultusminister Friedeburg selbst, auch progressive, prominente Wissenschaftler wie Wolf-Dieter Narr, Hermann Giesecke, Hans Mommsen oder Hartmut von Hentig teilnahmen. Man spottete dort, wohl nicht ganz zu Unrecht, die Konservativen hätten wohl auch deshalb so spät reagiert, da die Richtlinien mit 312 Seiten (!) Inhalt den bis dato (und vermutlich auch bis heute) wohl umfangreichsten Lehrplan eines Faches in der Geschichte der Schulpolitik darstellten. Hermann Giesecke stellte gleich fest, es handele sich gar nicht eigentlich um Richtlinien für den Unterricht, mehr um einen »umfassenden, eigenständigen Beitrag zur Diskussion der politischen Bildung«, da darin so ziemlich alles enthalten sei, was mit dem politischen Unterricht mittelbar oder unmittelbar zu tun hat: »Wissenschaftstheoretische Überlegungen, Diskussion der didaktischen Grundlage, Begründung und Entwurf von Lernzielen, die Rolle der Fächer (…), Erörterung methodischer Varianten und schließlich Themenentwürfe für die Klassen 5–10«.³
Inhalt der Richtlinien Schaut man heute noch einmal in dieses Mammutwerk hinein, das eine 15köpfige Autorengruppe hauptsächlich junger Lehrer in wenigen Wochen in Ad-hoc-Gruppen erarbeitete, nachdem der vorherige Ansatz einer großen Curriculumreform unter der Leitung von Wolfgang Klafki seit 1970 gescheitert war, so erkennt man schnell, dass es tatsächlich bis ins kleinste Detail hinein um die Frage geht: »Was sollen Schüler lernen?« Die Richtlinien sind in ihrer Struktur sehr stark inhaltlich orientiert und basieren zum Teil auf Unterrichtsentwürfen und Arbeiten aus dem Vorbereitungsdienst, dem Referendariat der Junglehrerteams. Schaut man sich beispielhaft zwei Lernzielschwerpunkte und die mit ihnen verknüpften material- und unterrichtspraktischen Hinweise an, so wird zwar einerseits der, teils auch harschen Angriffen ausgesetzte, Impetus im »Soziologesisch« (Elternvertreterin Gisela Freudenberg) beziehungsweise der »adornierende Jargon« (Prof. Erwin Scheusch, CDU) deutlich, andererseits aber auch der experimentelle, progressive, geradezu rebellische Charakter des geplanten Unterrichts in diesem eben erst erfundenen Fach, der durchaus zum Einmischen, zur gesellschaftlichen Intervention verleiten sollte.xxxxx So sieht der Unterricht im Lernfeld I (Sozialisation) in der 7./8. Jahrgangsstufe etwa die Lernzielschwerpunkte »Schichten/klassenspezifische Sozialisation« und »Selbst- und Mitbestimmung« vor. Hier sollen die Schüler beispielsweise lernen, dass »die Lage Unterprivilegierter nicht als naturgegeben und unabwendbar zu interpretieren sei, sondern dass sie Ausdruck von (…) Konflikten ist«, dass es »Herrschaftsverhältnisse« gibt und diese in verschiedenen Momenten ihren »sichtbaren Ausdruck finden«, aber dass auch »eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse« durchaus im Bereich des Möglichen liegt und nichts Utopisches darstellt. Hierzu sollen die Heranwachsenden nicht zuletzt Fragen an sich selbst, an ihre konkrete Lebenssituation, »in bezug auf Herkunft, Ausbildung, Besitzstand«, stellen: »Wohnen die Eltern in einem eigenen Haus, in einer Mietwohnung, in einem Wohnblock oder einer Behelfsunterkunft?«, »Wie wirkt sich die Situation am Arbeitsplatz auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern aus (Feierabendaggression, Schlafverhalten z.?B. bei Schichtarbeit)?«, »Wie schätzen Eltern und Kinder die Schule ein (Beurteilung der Schulanforderungen, Mithilfe bei Hausaufgaben, Einstellung gegenüber Noten …)?«.
In den Materialhinweisen zur Gestaltung des Unterrichts finden sich etwa Otto Rühles »Zur Psychologie des proletarischen Kindes«, Marianne Herzogs »Akkordarbeiterinnen bei Telefunken« oder auch »Berichte von Arbeiterkindern« aus der Dokumentation des Roten Schülerladens Westberlin. In bezug auf Aspekte der »Selbst- und Mitbestimmung« in der Schule, am Arbeitsplatz etc. sollen die Schüler erkennen, »warum erkannte Ungleichheiten bestehen« und wie »die Forderung nach Mit- und Selbstbestimmung zu verschiedenen Zeiten von einzelnen Schichten/Klassen/Gruppen einer Gesellschaft aufgegriffen und verschieden bestimmt wurde« und: »Was wurde von wem mit welchen Begründungen unternommen, um die Ungleichheit der Sozialisationsbedingungen abzubauen bzw. zu bekämpfen?« Hierzu sollten Schüler und Lehrer debattieren über Günter Amendts »Schülerkreuzzug«, Edwin Hörnles »Grundfragen proletarischer Erziehung«, Otto Bauers »Schulreform und Klassenkampf« oder auch über Wilhelm Reichs »Die Sexualität im Kulturkampf«.4
Aus heutiger Sicht scheint es schwer zu sagen, was die rechten Christdemokraten, die privilegierten Elite-Eltern und die konservative Presse mehr in Rage versetzte: Dass der Lehrplan auch vorsah »Probleme wie Onanie, Petting, Geschlechtsverkehr, Orgasmus, Potenzängste, Pornographie, Schwangerschaftsverhütung, Homosexualität, Partnerwahl (…) im Lernbereich Gesellschaftslehre aufzuarbeiten«5 oder dass »die Rolle der Autorität«6 kritisch hinterfragt werden sollte und man so um den relativ bedingungslosen Anpassungswillen der Untergebenen bangen musste. Die hessischen Arbeitgeberverbände beschieden den Richtlinien in einer offiziellen Stellungnahme jedenfalls nur ein Ziel, nämlich »(…) den Klassenkampf neu beleben« zu wollen: »Haben die Verfasser noch nichts von der Chancengleichheit gehört, die jedem die Möglichkeit des Vorwärtskommens in unserer Gesellschaft bietet und damit die Bildung von Klassen verhindert? Haben sie noch nichts vom Geist und Inhalt unserer Rechtsordnung bemerkt, die davon ausgeht, dass es keine Bevorrechteten und Unterdrückten gibt?«7 Die CDU gab gar eine Dokumentation gegen den »Sozialismus im hessischen Schulwesen heraus« – der durchaus originelle Titel: »Marx statt Rechtschreibung«. Darin schrieb die rheinland-pfälzische CDU-Staatssekretärin Hanna-Renate Laurien unter anderem über die Richtlinien: »Kritik ist ihr Maßstab, Loyalität sucht man vergeblich (…) Vorherrschaft des Konfliktdenkens verfälscht hier Schule zur Schulung (…) Die Absage an Begabung und jede erbbiologische Mitgift (…) macht den Weg frei für ein letztlich materialistisches Lernmodell: (…) den DGB verstehen als Unterrichtsziel«.8
Ursprünglicher Ausgangspunkt der Reformbestrebungen waren Überlegungen, wie sie der GEW-Vorsitzende Erich Frister zu Beginn der 1970er Jahre formuliert hatte: »Warum gibt es diesen großen Widerspruch zwischen den edlen Zielen der Lehrpläne, dem guten Willen der Lehrer und der tristen Erinnerung vieler unserer Kolleginnen und Kollegen aus Fabriken, Labors und Büros an die Schule? Warum ist die Schule in Klassen auch immer noch eine Schule für Klassen?«.? Im Umfeld der DKP konstatierte man zu jener Zeit, Schule habe vor allem zwei Funktionen: »Erstens dient sie dazu, die Arbeitskraft der Schüler grundlegend zu qualifizieren, zweitens vermittelt sie den Schülern die herrschenden Normen. (…) Die herrschende Weltanschauung wird durch Übernahme eines bestimmten Geschichtsbildes, bestimmter kultureller, religiöser usw. Auffassungen vermittelt«. Dies beinhaltet traditionell »wenig vom Standpunkt der arbeitenden Bevölkerung, also der Mehrheit der Menschen in diesem Lande«.¹° Auch dies zu ändern trat die Curriculums-Reform in Hessen an.
Gründe des Scheiterns Die Frankfurter Lehrer Peter Below und Herbert Stubenrauch schilderten im Dezember 1977, im Rückblick, woran die Reform scheiterte, scheitern musste: »Die Reformer verhedderten sich in den Fesseln eines grundlegenden Widerspruchs. Ihnen schwebte das verteidigenswerte Ziel einer neuen Schule und neuen Erziehung vor, aber es gab keine relevante soziale Bewegung, die eine neue Gesellschaft erkämpfen wollte. (…) die Reformfraktion der linken Sozialdemokraten, Sozialisten, GEW-Gewerkschafter hatte sich auf ein Terrain gewagt, auf dem sie genuin keine Verbündeten, sondern nur Gegner, die Gegnerschaft der Gymnasialbürger zu erwarten hatte. Denn Bildung und Schule waren und sind (…) seit jeher die wichtigste Domäne für die ideologische und soziale Sinnstiftung der oberen Mittelschicht. Sie sind also ein Terrain, auf dem sich der Gegner bestens auskennt, und auf dem diejenigen, für deren Chancengleichheit die Reformer sich schlugen, die Arbeiterfamilien, sich in aller Regel so unsicher bewegen, wie sie sich bewegen, wenn sie mit Behörden überhaupt zu tun haben.«¹¹ Die Aufforderung fing also letztlich nicht: Diejenigen, welche die Reform tragen und verteidigen sollten, reagierten misstrauisch, abwartend, uninteressiert oder gar verschreckt, nicht wenige reihten sich auch ins gegnerische Lager ein. Doch dies war freilich nur die eine Seite.
Eine gesellschaftliche Bewegung, welche die Reformen wenigstens hätte offensiv verteidigen können (und auf die man in der linken hessischen SPD unter der Hand auch baute), schalt die Sache am Ende als naiven Idealismus: Vertreter der Protestbewegung der Jahre 1968 ff. verschiedenster Fraktionen und jenseits der SPD urteilten, es handele sich bei den Hessischen Rahmenrichtlinien um ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Experiment, da man »ökonomisch verursachte Ungerechtigkeiten« nicht »mit dem Hebel eines gerechteren Schulsystems« beseitigen könne, mehr noch der »Betrug mit der Bildungsreform« habe in diesen Richtlinien förmlich seinen »rationalen Kern«, da sie von der These ausgingen, »im engeren Sinne demokratische Ziele (…) stünden in Einklang mit Qualifikationsstrukturen, wie sie die spätere Stellung des Schülers im Produktions-/Arbeitsprozess verlangten«.¹² Dabei sei die inhaltliche Schulreform, wie auch die formale, letztlich das Werk »bürgerlicher Lehrplantheorie (…) aus dem Bereich der Kultusbürokratien« und beruhten demnach auf der »Vorstellung, dass ein Konsens aller Beteiligten hinsichtlich der generellen Ziele (z.?B. Chancengleichheit) herstellbar ist«.¹³ Der kritisch-emanzipatorische Ansatz der Rahmenrichtlinien stand, da waren sich die Kritiker von links einig, eben »in deutlichem Gegensatz zur historisch-materialistischen Auffassung, derzufolge aufbrechende gesellschaftliche Konflikte als gesetzmäßige Erscheinungen einer durch antagonistische Widersprüche gekennzeichneten Gesellschaft zu begreifen sind«, alle gesellschaftskritischen Fragen der Autoren und Autorinnen der Richtlinien aber »führen alleine in die Perspektive der Verbesserung der demokratischen Gestaltung dieser hiernach klassenneutral angelegten Institutionen (Mehrparteiensystem, unabhängige Rechtsprechung, Pressefreiheit)«.¹4
Letztlich war die Kampagne (»Das Bündnis der Roten mit den Faulen«) von Hessen-CDU und Hessischem Elternverein äußerst erfolgreich: Bei den Landtagswahlen Ende Oktober 1974 konnte die Partei unter Alfred Dregger, nicht zuletzt aufgrund der Auseinandersetzungen um die Schulpolitik, 7,6 Prozent zulegen und 53 der 110 Landtagssitze erringen. Die regierende sozialliberale Koalition unter Albert Osswald (SPD) und Heinz Herbert Karry (FDP) musste in der folgenden Legislaturperiode auf allen Ebenen zurückrudern.
Das hieß konkret: Stopp beim Ausbau der Gesamtschulen, Stopp bei der Reform der Unterrichtsinhalte, Kürzung der Mittel für Lernmaterialien und der Zuschüsse für Ausflüge sowie Abbau von Planstellen. Die Folgen in und für die organisierte Lehrerschaft waren Resignation und Apathie. Viele GEW-Schulgruppensitzungen konnten in der Folge nicht stattfinden – wegen zu geringer Beteiligung waren sie nicht beschlussfähig.¹5
Doch da war Ludwig von Friedburg schon längst nicht mehr im Amt. Der geistige Vater und stete Verteidiger der inhaltlichen Schulreform, der aus der kritischen Theorie stammende und bei Adorno habilitierte Soziologe stand wie kein anderer SPD-Politiker für die tiefgreifenden Veränderungen der hessischen Bildungslandschaft in den vorange- gangenen Jahren – für die Gesamtschule, für das Fach Gesellschaftslehre, für die Einführung der Mengenlehre in der Mathematik und für eine kritisch-emanzipatorische pädagogische Grundhaltung im Sinne von »Selbstbestimmung und Mitbestimmung« – und wurde deshalb als Kultusminister ersetzt. Der »radikale«, »streitlustige« und »seiner Zeit weit voraus« denkende Friedeburg¹6 starb im Mai 2010 – sein Vermächtnis und der Konflikt darum reichen durchaus bis in unsere Zeit.
Und heute? Das deutsche Bildungssystem ist so selektiv wie eh und je, an die Stelle inhaltlicher Auseinandersetzung trat die »Kompetenzorientierung«, und statt Haltung und Parteilichkeit geht es heute im Unterricht darum, »alle Seiten zu beleuchten«. Dass zum Argument das Gegenargument gehört, ist ohnedies ein Witz der neueren Didaktik, der zwanghaft den Schein von Objektivität und Pluralismus sichern helfen soll. Wolf-Dieter Narr formulierte dagegen seinerzeit: »Curriculare Vorschläge müssen aber nicht nur letztlich ›normativ‹ sein, also werten, sonst bedürfte es wohl kaum der ›Erziehung‹, sondern sie sind in gewisser Weise auch notwendig ›einseitig‹, das heißt, sie beziehen Position für dieses Ausbildungsziel und gegen eine ganze Reihe weiterer denkbarer oder praktizierter«.¹7
Darum: Wer sich heute auf die Spurensuche nach Ansätzen einer kritischen Pädagogik, einer fortschrittlichen Erziehungswissenschaft begibt, dem sei die Lektüre der Hessischen Rahmenrichtlinien – nicht zuletzt um vielleicht Anregungen für den eigenen Unterricht zu finden – dringend anempfohlen.
1 Ludwig von Friedeburg: Ein Rahmenwerk für die Innere Schulreform; in: Gerd Köhler/Ernst Reuter (Hg.): Was sollen Schüler lernen? Die Kontroverse um die Hessischen Rahmenrichtlinien für die Unterrichtsfächer Deutsch und Gesellschaftslehre. Dokumentation einer Tagung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Frankfurt am Main 1973, S. 37 f. 2 Günter C. Behrmann: Die Erziehung kritischer Erzieher als neues Staatsziel. Das Funkkolleg Erziehungswissenschaften und die Hessischen Rahmenrichtlinien; in: Meike Sophia Baader/Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik. Weinheim und München 2011, S. 212 3 Hermann Giesecke: Die neuen Hessischen Rahmenrichtlinien für den Lernbereich ›Gesellschaftskunde, Sekundarstufe I‹; in: Köhler/Reuter (1973), S. 61 xxxxxxxx 4 Der Hessische Kultusminister (Hg.): Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I, Gesellschaftslehre. Wiesbaden 1972, S. 79-95
7 Zit. nach: Gerd Köhler: Inhaltliche Schulreform im Widerstreit gesellschaftlicher Interessen; in: Köhler/Reuter (1973), S. 15 8 Zit. nach: Ebd., S. 16 f. 9 Rainer W. Campmann/Klaus Goehrke/Horst Hensel/Heinrich Peuckmann (Hg.): Werkkreis Literatur der Arbeitswelt: Schulgeschichten. Frankfurt am Main 1977, S.194 10 Ebd. (Vorwort), S. 7 11 Peter Below/Herbert Stubenrauch: Mit Geld und Macht gegen die Zukunft. Anatomie einer Bürger-Initiative der Rechten gegen ›das Bündnis mit den Faulen‹, am Beispiel des ›Hessischen Elternvereins‹ in: Karl Markus Michel/Harald Wieser (Hg.): Kursbuch 50 (Dezember 1977) – Bürgerinitiativen/Bürgerprotest – eine neue Vierte Gewalt? Berlin 1977, S. 153 12 Ingrid Haller/Hartmut Wolf: Rahmenrichtlinien; in: Päd. extra- Redaktion/Horst Speichert (Hrsg.): Kritisches Lexikon der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 311 f. 13 Ebd., S. 311 14 Hans-Karl Rupp: Erziehung zum Klassenkampf?; in: Köhler/Reuter (1973), S. 102 15 Vgl. Autorengruppe Frankfurt/Hanau: Hessen – Kampfmaßnahmen oder nicht (GEW- Hessen); in: Informationsdienst Arbeitsfeld Schule: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Blick in die Landesverbände Hessen, Berlin, Hamburg, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Offenbach 1977, S. 5 16 Ohne Autor: Gestorben – Ludwig von Friedeburg, 85; in: Der Spiegel 21/2010, S. 138 17 Wolf-Dieter Narr: Verbindliche Ausbildungsreform oder unverbindliche Reformrednerei; in: Köhler/Reuter (1973), S. 76 f.
Das 350.org Team Fünf Antworten auf die Corona-Krise Corona hat unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Alle sind unmittelbar betroffen, haben Freunde und Familie für die auf einmal alles anders ist. In manchen Momenten fällt es schwer noch an irgendetwas anderes zu denken. Doch gleichzeitig werden jetzt die Weichen für die Zeit nach Corona gestellt. Was wir als Bewegung jetzt machen und jetzt fordern, wird bestimmen ob die Milliarden der Regierungen in die Taschen der Kohle-, Öl- und Gasindustrie fließen oder ob das Geld in eine gerechtere und sichere Zukunft investiert wird.
Regierungen und die internationale Gemeinschaft handeln mit großer Dringlichkeit und ergreifen beispiellose Maßnahmen. Das ist richtig um die Gesundheit und Jobs aller zu sichern. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die jetzt getroffenen Entscheidungen die richtigen sind. Denn sie werden unsere Gesellschaft für Jahre, wenn nicht gar für Jahrzehnte prägen.
In Zeiten wie diesen kommt es darauf an, entschlossen Menschenl- eben zu retten und den Weg in eine sichere Zukunft zu weisen – mittels einer #JustRecovery.
Deshalb fordern wir eine globale Strategie, die eine gerechte Zukunft für alle in den Mittelpunkt stellt als Reaktion auf die COVID- 19-Pandemie. Unterschreibe unseren offenen Brief, um dich dieser Forderung anzuschließen:HIER
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Corona-Krise als Ausrede herangezogen wird um die Bekämpfung globaler Ungleichheit, Rassismus oder des Klimawandels zu stoppen. Schon jetzt sehen wir, wie einige dieser Probleme durch Corona verschärft werden und falsche Entscheidungen könnten uns um Jahre zurückwerfen. https://350.org/de/
Wir Europäer sagen NEIN zu einem Krieg gegen Russland! Von Rudolf Hänsel, Ullrich Mies und Mitunterzeichnern
Zwei Weltkriege sind genug! In der Vergangenheit ließ sich Deutschland in den Ersten Weltkrieg hineinziehen und hat im Zweiten Weltkrieg dem russischen Volk unermessliches Leid zugefügt. Wir werden nicht zulassen, dass sich dies noch einmal wiederholt! Wenn die deutsche Vasallen- Regierung in Komplizenschaft mit den Kriegstreibern in Großbritannien und Frankreich unter der Führung der USA und der NATO einen neuen Angriffskrieg gegen Russland plant, dann tut sie das nicht in unserem Namen! Zu Krieg und Frieden haben wir, die Bürgerinnen und Bürger, das letzte Wort! Wir sagen NEIN zu Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen und verurteilen die fortgesetzte Kriegstreiberei, Aufrüstung und Militarisierung! mehr... http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24807
“Containern” ist Diebstahl? Im Juni 2018 hatte die Polizei die Studentinnen Franziska S. und Caroline K. dabei erwischt, wie sie weggeworfene Lebensmittel im Wert von rund 100 Euro aus der Abfalltonne eines Edeka-Marktes in Olching holten. Während die soziale Spaltung in Arm und Reich zunimmt, landet die Überproduktion im Abfall. Doch selbst, wenn es nur um ihren Müll geht, versteht die herrschende Klasse keinen Spaß. Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck wertete dies als Diebstahl. Nach einem Strafantrag des Marktleiters und der Münchner Staatsanwaltschaft verurteilte es die jungen Frauen zu einer Geldstrafe von je 225 Euro. Nun hat das Bayerische Oberste Landesgericht das Urteil im Revisionsverfahren bestätigt.
Klein beigeben wollen und sollten die Verurteilten nicht. Die Studentinnen gehen davon aus, dass mit dem Wegwerfen von Lebensmitteln in die Mülltonne das Eigentum an ihnen aufgegeben wird. Sie denken über den Gang nach Karlsruhe nach. Denn ihrer Auffassung nach wird »mit dem Wegwerfen von Lebens- mitteln in die Mülltonne das Eigentum an ihnen aufgegeben«. Statt dessen hätten die Gerichte sie zu Straftäterinnen abgestempelt. Das sei »absurd«, denn für den Supermarkt sei ihr »Diebesgut« wertloser Müll gewesen.
Laut einem veröffentlichen Bericht der Welternährungsorganisation FAO der Vereinten Nationen (UN) wandern weltweit 14 Prozent der produzierten Nahrungsmittel noch vor dem Verkauf in den Müll. Vieles davon verderbe durch falsche Lagerung. In den Industrienationen in Europa, Nordamerika und Asien ist die Wegwerfquote demnach mit 16 bis 20 Prozent am höchsten. Wie spiegel-online jüngst berichtete, sieht FAO-Direktor Qu Dongyu in der hohen Verlustrate ein großes Problem. Umsonst würden Land- und Wasserressourcen verschwendet, die Luft verschmutzt und Treibhausgase ausgestoßen, sagte er. Dies sei nicht hinnehmbar, »wenn mehr als 820 Millionen Menschen jeden Tag Hunger leiden«.
In ihrem am Dienstag veröffentlichten Welthungerindex 2019 warnte die Welthungerhilfe vor einer deutlichen Verschärfung der Lage. In den vergangenen drei Jahren sei die Zahl der Menschen, die an akutem Nahrungsmangel leiden, von 785 Millionen auf 822 Millionen gestiegen. Das liege auch am Klimawandel, der zu vermehrten Dürren, Ernteverlusten und steigenden Preisen führe. Das sei »ein herber Rückschlag«, erklärte die Präsidentin der Organisation, Marlehn Thieme, in einer Mitteilung. Noch nie sei der Graben zwischen Not und Überfluss breiter als heute gewesen, kritisierte dazu die Bundestagsabgeordnete Eva- Maria Schreiber (Die Linke).
All das ficht den 6. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landegerichts nicht an. Die Frauen hätten Diebstahl begangen, weil »die entwendeten Lebensmittel zum Zeitpunkt der Wegnahme im Eigentum der Firma Edeka standen«, erklärte Gerichtssprecher Florian Gliwitzky. Zwar habe die Supermarktkette das Essen für die Entsorgung aussortiert, das Eigentum daran aber nicht aufgegeben. Hierbei gehe es auch um »gesundheitliche Unbedenklichkeit«, so der Sprecher. Mehr==> http://olchiscontainern1.blogsport.de/
GROKO Auf Deutsch GROSSesKOtzen
Einlagensicherung in der EU? Bei den Finanzministern der Euro-Staaten gibt es Vorbehalte gegen die von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zuletzt voran- getriebene Einführung eines EU- Sicherungssystems für Bankgut- haben. Manche seiner Bedingungen seien für einige Staaten inakzeptabel, sagte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni an einem Donnerstag in Brüssel. Scholz hatte Anfang November Bereitschaft zu einer solchen Sicherung für Sparguthaben signalisiert. Diese soll verhindern, dass Bankkunden in Krisenzeiten ihre Konten räumen. Bedingung sei für Scholz, dass Risiken im Bankensektor abgebaut würden.
Was solls? Die Banken zahlen EUCH keine Zinsen! Also - holt euer Geld nach Hause! Dazu braucht ihr doch keine kriese !!
Rote Kreuz Spanien Die Coronapandemie hat Spanien schwer getroffen. Neben vielen Erkrankten und Toten steigt auch die Zahl der Bedürftigen, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind. Das spanische Rote Kreuz organisiert derzeit die größte Hilfsorganisation seiner Geschichte, und das im eigenen Land. Wie ist die Situation bei Ihnen?
Wir vom Roten Kreuz bekommen viele Anfragen von Menschen, denen es an Lebensnotwendigem fehlt, zum Beispiel an Nahrungsmitteln. Derzeit verteilen wir neben Supermarktgutscheine auch Geld, damit Bedürftige sich Lebensmittel, Hygieneprodukte oder Medikamente kaufen können.
Wie viele Menschen bekommen von Ihnen diese Unterstützung? In den ersten zwei Monaten der Coronakrise haben wir rund 1.350.000 Menschen direkt geholfen. Mittlerweile haben wir mehr als 250.000 Pakete mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Produkten des täglichen Bedarfs an 135.000 Menschen verteilt. Wir vom Roten Kreuz haben aufgrund der gegenwärtigen Lage den »Plan Responde« ausgelöst und damit die größte Mobilisierung von Ressourcen und Menschen in die Wege geleitet, die es in der Geschichte unserer Organisation jemals gegeben hat.
Coronavirus Folge von Artensterben Berlin. Umweltministerin Svenja Schulze fordert als Schlussfolgerung aus der Coronapandemie einen weltweit besseren Natur- und Artenschutz. »Er kann zu einer Art Lebensversicherung werden«, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag in Berlin. Etwa 70 Prozent der Infektionserreger kämen aus dem Tierreich. Darunter seien Ebola, HIV (AIDS-Erreger) und Viren, die zu MERS und SARS führen. Auch der Covid-19-Erreger wird auf Wildtiere zurückgeführt. Deren Lebensraum werde eingeengt, es entstehe eine unnatürliche Enge zwischen Menschen und Tieren. »Je mehr der Mensch die Natur zerstört, desto größer ist das Risiko, dass das Virus überspringt«, warnte Schulze. Der Artenschwund müsse weltweit gestoppt werden.
Covid-19: Regierung bestellt Präparat Avigan Frankfurt am Main. In der Coronakrise deckt sich die Bundesregierung kurzfristig in großem Stil mit einem Präparat ein, das hilfsweise gegen die Lungenerkrankung Covid-19 zum Einsatz kommen soll. Wie die FAZ am Donnerstag berichtete, geht es um die antivirale Grippetablette »Avigan«, die nach Erfahrungen in Asien Hoffnungen weckt, sowie um andere Präparate. Verantwortlich sei das Bundesgesundheitsministerium. »Avigan« ist laut dem Bericht in Japan für die Anwendung gegen Corona begrenzt zugelassen und verhindert normalerweise, dass sich ein Grippevirus im Körper repliziert.
Weltwirtschaftskrise: Staaten des Westens im freien Fall USA verzeichnen 20 Millionen Erwerbslose. Frankreich warnt vor Zusammenbruch der Euro-Zone. Hoffnungen ruhen auf Wachstumszahlen Chinas Von Simon Zeise (in der jw) 5,245 Millionen US-Bürger haben in der vergangenen Woche einen Erstantrag auf Erwerbslosenhilfe gestellt, wie das Arbeitsministerium am Donnerstag in Washington mitteilte. Binnen vier Wochen sind mehr als 20 Millionen Lohnabhängige in den Vereinigten Staaten erwerbslos geworden. Volkswirte schätzen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA im ersten Quartal um bis zu 10,8 Prozent geschrumpft sein könnte. Es wäre der stärkste Rückgang seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Industrieproduktion fiel um 6,3 Prozent zurück.
Die Dominanz des Finanzkapitals verstärkt die Rezession. Die US-Großbanken meldeten am Donnerstag sinkende Profite: Morgan Stanley teilte mit, der Gewinn sei im ersten Quartal um 30 Prozent auf 1,7 Milliarden Dollar abgeschmiert. Für Goldman Sachs, Bank of America und die Citigroup halbierten sich die Überschüsse, bei Branchenprimus JP Morgan schrumpften sie um gut zwei Drittel, bei Wells Fargo sogar um fast 90 Prozent. Banker wollen von der Regierung ausgezahlt werden. Die Internationale Bank für Zahlungsausgleich (BIZ) warnte am Mittwoch: »Eine zu weitreichende Aufweichung der Bankenregeln kann nach hinten losgehen«, schrieb BIZ-Chefvolkswirt Claudio Borio. In Anspielung auf den von vielen Politikern gezogenen Vergleich der Coronakrise mit einem »Krieg« wies Borio darauf hin, dass ein solcher nicht gewonnen werden könne, wenn die politischen Maßnahmen die Stabilität der Finanzinstitute gefährdeten.
Spekulanten ziehen derweil ihr Geld aus Fonds, Aktien und Anleihen ab und legen ihr Hab und Gut in »sicheren Häfen« an. Das Nettoergebnis des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock fiel im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 23 Prozent auf 806 Millionen Dollar, wie die Schattenbank am Donnerstag mitteilte. Wegen der Kursverluste an den Börsen schrumpften die verwalteten Vermögen bis Ende März gegenüber Ende Dezember um fast eine Billion Dollar. Dagegen erreichten die Goldpreise am Donnerstag ein neues Rekordhoch. Eine Feinunze (31,1 Gramm) kostete 1.597,34 Euro.
Auch in der Europäischen Union spitzt sich die Krise weiter zu. DieMitglieder der Wirtschaftsunion können keinen gemeinsamen Nenner finden, um der großen Rezession etwas entgegenzusetzen. Vor dem am Wochenende stattfindenden EU-Gipfel lassen die Regierungen die Muskeln spielen. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire meldete sich über die Donnerstagausgaben mehrerer europäischer Zeitungen zu Wort. Dem Handelsblatt sagte er, dass »die Zukunft der EU als politischer Kontinent, als Währungsunion und als Wirtschaftsmacht auf dem Spiel steht«. Paris, Madrid und Rom fordern die Vergemeinschaftung der Staatsschulden im Währungsverbund durch gemeinsame Anleihen. Deutschland und die Niederlande stemmen sich dagegen. Jede Regierung müsse einen Schritt in Richtung der anderen Mitgliedstaaten machen. Frankreich sei »kompromissbereit, vorausgesetzt, es gibt eine gemeinsame Schuldenemission«.
Derweil starrt der Westen gebannt nach China. Am Freitag werden in Beijing die Wachstumszahlen der Volksrepublik für das erste Quartal veröffentlicht. »Die chinesischen Entscheidungsträger haben sehr stark auf den Ausbruch der Krise reagiert«, sagte IWF-Regionalchef Changyong Rhee am Donnerstag gegenüber Reuters. »Wenn sich die Situation verschlimmert, haben sie mehr Spielraum, um fiskal- und geldpolitische Maßnahmen zu ergreifen.«
Monopolkapitalismus: Kampf der Kolosse Vorabdruck: Liberale Ökonomen sind dem Irrglauben verfallen, das Monopol sei ein Fehlentwicklung innerhalb der Marktwirtschaft. Dabei entsteht es unter kapitalistischen Bedingungen mit Notwendigkeit und hebt die Konkurrenz auf eine neue Stufe Von Klaus Müller in der jW
In den kommenden Tagen erscheint im Kölner Papy-Rossa-Verlag in der Reihe Basiswissen der von Klaus Müller verfasste Band »Monopole«. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag leicht gekürzt das Schlusskapitel. (jW)
Die Neoliberalen, der Linken Lieblingsfeind – und umgekehrt –, berufen sich auf ihre scheinbar vornehme Herkunft. François Quesnay (1694–1774), Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823), die Klassiker der politischen Ökonomie, traten für wirtschaftliche Freiheit ein. »Laissez faire et laissez passer – le monde va de lui meme« (Lassen Sie machen, lassen Sie laufen, die Welt dreht sich von allein). Ein großer Satz – Sinnspruch des klassischen Liberalismus. Er war, als im 18. Jahrhundert die Industrielle Revolution begann, die richtige Antwort auf die Frage, wie man die Wirtschaft am besten organisieren kann.
Vernunft, das ist Natur, und das Natürliche bedeutete den Altliberalen Freiheit. Das Laisser-faire-Prinzip besagt, dass es der Wirtschaft am besten geht, wenn die Unternehmen frei miteinander konkurrieren, Monopole mit ihren wirtschaftlichen Privilegien unterbunden werden und sich der Staat aller Eingriffe enthält. Indem er seine egoistischen Interessen verfolgt, fördere der einzelne das Wohl der Allgemeinheit weit mehr, als wenn dies seine Absicht wäre. Diese Ansicht war zeitbedingt richtig und förderte die Entwicklung des Kapitalismus. Dessen schärfste Kritiker loben: »Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen«, so Marx und Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei«.
Rückkehr zur guten alten Zeit Doch Ernüchterung und Enttäuschung breiteten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus, als sich in der Wirtschaft Verwerfungen zeigten. Die wirtschaftliche Freiheit hatte große Kapitale hervorgebracht. Monopole hatten die freie Konkurrenz beseitigt. Die wirtschaftliche Freiheit hatte den Reichtum weniger und die Armut vieler gemehrt. Sie hatte sich als die Freiheit der Stärkeren erwiesen. Die soziale Balance war aus den Fugen geraten. Der Engländer John Maynard Keynes (1883–1946) verkündete daraufhin 1926 das Ende des Laisser-faire. Spätestens nach dem Schock, den die Weltwirtschaftskrise 1929–32 auslöste, war ein »Weiter so« unmöglich geworden. Das Laisser-faire-Prinzip hatte sich ad absurdum geführt. Und mit ihm die Idee des Nachtwächterstaates, der nichts anderes tun sollte, als das freie Unternehmertum zu schützen. Staatliche Versuche, die wirtschaftliche Katastrophe zu beseitigen, waren gescheitert.
Im Jahre 1937 erschien das Buch »The Good Society« des US-Amerikaners Walter Lippmann. Der Autor provozierte die Elite mit der These, dass der Liberalismus dem Kollektivismus unterlegen sei. Aufgeschreckt trafen sich ein Jahr darauf in Paris renommierte Liberale, um über eine Neuausrichtung zu debattieren. Der Nationalökonom Walter Eucken (1891–1950) sowie die Rechtswissenschaftler Hans Großmann-Doerth (1894–1944) und Franz Böhm (1895–1977) hatten Ende der 1920er Jahre an der Universität Freiburg den Ordoliberalismus aus der Taufe gehoben. Die »Freiburger Schule« stand der etwa zeitgleich von Henry Simons (1899–1946) und Frank Knight (1885–1972) an der Universität Chicago gegründeten Denkrichtung nahe. Deutsche wie Amerikaner lehnten das sowjetische Wirtschaftsmodell ab und glaubten weiter an die Heilwirkung des Marktes.
Neu war die Kritik an den monopolistischen Deformierungen des Marktes, an Bank- und Unternehmensmacht, an Kartellen, Krisen und fehlerhaften staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft. Sie wollten das System der Geschäftsbanken durch hundert Prozent Mindestreserven regulieren und die Giral- und Investmentbanken strikt trennen. Sie waren dafür, die Zentralbank einem automatischen Geldpolitikmechanismus zu unterwerfen. Die Bindung an eine Geldwarenreserve, zum Beispiel Gold, sollte verhindern, dass die Geldmenge zu stark steigt, und fallweise geldpolitische Eingriffe überflüssig machen. In Freiburg und Chicago wurde die Rolle des Staates neu bestimmt: Der Staat habe Regeln zu setzen und den Wettbewerb zu ordnen. Er solle mittels Preisregulierungen die Konkurrenz ergänzen, sie durch eine Wachstumspolitik stabilisieren und durch eine Verteilungspolitik die unsozialen Ergebnisse korrigieren. Keine zentrale Wirtschaftslenkung sozialistischer Art, aber ein »liberaler Interventionismus« sei nötig, so Alexander Rüstow (1885–1963), der 1938 auch den Begriff »Neoliberalismus« prägte.
Die Ordoliberalen wollten die Wirtschaft als Spiel organisieren, dessen Regeln der Staat setzt. Ihr Credo: Der Staat schafft den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen sich die privaten Kapitale frei entfalten. Sie übersahen, dass monopolistische Macht und Polarisierung des gesellschaftlichen Reichtums keine Störungen oder Entartungen, sondern die Folgen des marktwirtschaftlichen Prinzips sind, genauso wie die Kriege um Rohstoff- und Absatzmärkte, Überproduktionskrisen, verpfuschte Verkehrsplanung und Finanzspekulationen. Doch ihre Kritik an den Zuständen war aufrichtig. Sie wendeten sich »im Namen der echten Marktwirtschaft«, so Wilhelm Röpke (1899–1966), »gegen Monopolisierung, Konzentration und Kolossalkapitalismus«. Sie seien »für eine Milderung der Härten und Reibungen zugunsten der Schwachen«. Sie hätten ihre »Wahl getroffen zugunsten des Klein- und Mittelbetriebes in allen Wirtschaftszweigen, zugunsten alles Maßvollen, (…) der Dezentralisation der Volkswirtschaft«.
Das Ideal der Ordoliberalen ist das gewerbereiche Schweizer Dorf: 3.000 Seelen, ein vorzügliches altes Gasthaus, Bauernhöfe, »eine versteckte Maschinenfabrik von 100 Arbeitern (…), eine Leinenweberei und Leinenbleicherei, eine moderne Buchdruckerei, eine Brauerei, eine Stuhlfabrik, eine Obstmosterei, eine Verzinkerei, eine Leinengarn- und Halbgutfabrik, eine Käserei, eine Handelsmühle, eine Möbelfabrik, eine Käseexportfirma, Holzhandlungen und Sägereien, eine Zichorienfabrik, eine Werkzeugschmiede, Gärtnereien, Maurergeschäfte, eine Seilerei und eine lange Reihe von offenbar wohlgedeihenden Handwerkern (Schreiner, Kaminfeger, Küfer, Korbmacher, Sattler, Maler und Gipser, Spengler, Coiffeure, Elektrotechniker, Schneider, Schuster, Dachdecker, Bäcker, Metzger, Hafner, Uhrmacher und Gärtner). Das kulturelle Niveau dieses kleinen Ortes wird gekennzeichnet durch eine ansehnliche und geschmackvolle Buchhandlung, durch eine Musikinstrumentenhandlung und durch eine Sekundarschule, (dadurch) dass alles von Sauberkeit und Schönheit strahlt (…), dass jeder Garten liebevoll und sachkundig gepflegt ist, dass das Alte wohlbewahrt und das ganze Dorf, das von einem alten Schloss gekrönt wird, inmitten der lieblichsten Landschaft liegt (…), eine menschliche Siedlung, wie sie nicht erfreulicher gedacht werden kann. Es ist unser Ideal, in eine höchst konkrete Wirklichkeit übersetzt.«¹
Alfred Müller-Armack (1901–1978) entwickelte auf ordoliberaler Grundlage 1946 das Konzept der »sozialen Marktwirtschaft« – einer Synthese von Marktfreiheit und sozialem Ausgleich. Die heutigen Neoliberalen lehnen den starken Sozialstaat ab. Nachdem der real existierende Sozialismus unterging, habe die soziale Marktwirtschaft als Ordnungsmodell ausgespielt. Der Rückkehr zum »gewöhnlichen« Kapitalismus steht nichts mehr im Wege: soziale Leistungen kürzen, staatliche Sektoren privatisieren, Märkte deregulieren, Lohnstückkosten senken, Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Der Staat solle sich aus der Wirtschaft heraushalten. Er darf aber weiterhin private Verluste übernehmen und Investoren finanziell unterstützen. Neoliberale Wirtschaftspolitik verkehrt den Grundgedanken der Ordoliberalen ins Gegenteil: Sie stärkt die Starken und schwächt die Schwachen, forciert die Umverteilung von unten nach oben. Sie begünstigt die Konzentration ökonomischer Macht, stellt die Interessen der Wirtschaftsmächtigen und Eliten über das Gemeinwohl.
Der ahistorische Transfer von Glaubenssätzen aus der Schatzkiste der ökonomischen Klassik ist ungeeignet, den von Krisen heimgesuchten Kapitalismus zu gesunden. Die altliberalen Losungen sind zu Apologetik verkommen. Vor Jahrhunderten unterstützten sie den Durchbruch der fortschrittlichen kapitalistischen Produktionsweise, heute festigen sie deren monopolistische Deformierungen und die soziale Ungleichheit. Der US-Ökonom John K. Galbraith (1908–2006) nannte neoliberale Absichten, den Staat aus der Wirtschaft hinauszudrängen, aber mit seiner Hilfe die freie Konkurrenz sichern zu wollen, sehr treffend »den letzten verzweifelten Versuch eines resignierenden Verstandes«.
Konkurrenz und Monopol Zwischen dem Monopol und der Konkurrenz gibt es einen historisch-dialektischen Zusammenhang. Das kapitalistische Monopol ist aus der freien, kapitalistischen Konkurrenz hervorgegangen, die ihrerseits vorher das feudale Monopol abgelöst hatte. Monopole sind das Gegenteil der Konkurrenz, existieren aber nicht ohne sie. Sie beseitigen »nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte«.² Sie ergänzen die freie Konkurrenz, indem sie die Konkurrenz auf eine qualitativ neue Stufe heben. Die freie schlägt um in die monopolistische Konkurrenz. Zwischen den Monopolen herrscht Konkurrenz in alten und neuen Formen. Sie hat sich gegenüber dem vormonopolistischen Kapitalismus noch verschärft. Die neue Qualität der monopolistischen Konkurrenz äußert sich darin, dass sich die Akteure nicht mehr mit dem Durchschnittsprofit begnügen. Ziel des Monopols ist der dauerhafte Extraprofit. Um ihn zu erreichen, genügt es nicht mehr, die Konkurrenten zu schwächen, sie sollen vernichtet werden. Dazu ist nahezu alles erlaubt: Betrug, Bestechungen, der Einsatz von Gewalt. »Wir haben es nicht mehr mit dem Konkurrenzkampf kleiner und großer, technisch rückständiger und technisch fortgeschrittener Betriebe zu tun. Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen.«³ Kleinere und mittlere Kapitalisten sowie einfache Warenproduzenten werden in den Ruin getrieben. Monopole verhindern, dass Kapital frei zwischen den Zweigen fließen kann, und sind mächtig genug, Kapitalverlagerungen aus der einen Branche in eine andere zu erzwingen. Auf dem Weltmarkt bekämpfen sich die Monopole verschiedener Länder. Aber auch Monopole ein und desselben Landes streiten um Weltmarktanteile. Die Konkurrenz erfasst neue Felder.
Schon im vormonopolistischen Kapitalismus stärkte der Staat durch Protektionismus oder durch eine Freihandelspolitik die Konkurrenzfähigkeit seiner Unternehmen. Der Kampf um die staatliche Unterstützung weitet sich aus. Der Staat ist nicht nur ein Mittel des Konkurrenzkampfes, er ist auch Objekt der Konkurrenz. Die Monopole kämpfen ständig um die Gunst der Politiker, nehmen Einfluss auf den Inhalt der Gesetze zu ihren Gunsten, buhlen um Staatsaufträge und Fördergelder. Im vormonopolistischen Kapitalismus konkurrierten die Unternehmer vornehmlich beim Warenverkauf miteinander. Der Kampf weitet sich auf die Rohstoffvorkommen aus. Das Monopol kann seine Stellung nur behaupten, wenn es die Rohstoffmärkte kontrolliert.
Die monopolistische Konkurrenz tritt national und international in folgenden Formen auf:
– innerhalb der Monopole: Die Produktionsquoten, Marktanteile, Aktienmehrheiten, die Festlegung der Preise, Aufsichtsratsposten, die Verkaufsbedingungen, Kreditkonditionen und die Profitverteilung sind in den Kartellen, Syndikaten und Konzernen hart umkämpft.
– zwischen den Monopolen eines Zweiges: Absatz, Umsatz, Marktanteile.
– zwischen Monopolen verschiedener Produktionszweige, zum Beispiel zwischen Liefer- und Anwendermonopolen, eine Konkurrenz, die zu einer vertikalen Integration und Fusionierung führen kann. Oder zwischen Monopolen, die austauschbare Erzeugnisse herstellen wie zum Beispiel verschiedene Fahrzeuge oder Maschinen, Erdöl und Kohle, Kupfer und Aluminium, Kunststoffe und Stahl, synthetische und natürliche Fasern.
– zwischen Monopolen und den nichtmonopolistischen Kapitalen, den sogenannten »Außenseitern«, die sich gegen die Übernahme in das Monopol wehren.
Die absolute Monopolisierung ist eine Tendenz. Durchsetzen kann sie sich, von temporären Ausnahmefällen in einzelnen Zweigen abgesehen, nicht. In der US-amerikanischen Aluminiumindustrie befand sich vor dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Produktion längere Zeit in den Händen einer Firma, der Alcoa (Aluminum Company of America). Eine hundertprozentige Monopolisierung ist aber untypisch. Sie ist dauerhaft unmöglich, weil ständig neue Produktionszweige hinzukommen, alte an Bedeutung verlieren, neue Produkte und Produktionsverfahren entwickelt werden und umkämpft sind, die Entwicklung in den Zweigen ungleichmäßig verläuft und die Monopole stets zu den profitabelsten Zweigen drängen. Die weniger profitablen Branchen bleiben den kleinen und mittleren Unternehmen vorbehalten. Monopole bezwecken nicht immer, sie zu ruinieren und zu übernehmen. Ihre ökonomische und außerökonomische Unterwerfung als hochspezialisierte Zulieferer ist oft lukrativer für die Monopole, die dort beschäftigte Arbeiter ausbeuten können, ohne eigenes Kapital für entsprechende Produktionskapazitäten aufbringen zu müssen. So sind Tausende von der Statistik als selbständig gezählte Unternehmen in Wirklichkeit total abhängig von den Monopolen.
Nachahmer: Produktmonopole Auch bürgerliche Ökonomen benutzen den Begriff der »monopolistischen Konkurrenz«, verstehen darunter den Wettbewerb zwischen vielen kleinen Anbietern und Nachfragern auf einem unvollkommenen, das heißt auf einem heterogenen, polypolistischen Markt. Sie verfehlen so das Monopolproblem, erfassen aber Bedeutsames. Denn der Traum eines jeden Unternehmers ist das Monopol, ist es, die Konkurrenz auszuschalten und keine Angst haben zu müssen, dem Stärkeren, Gewiefteren oder Brutaleren zu unterliegen. Tatsächlich können sich kleine mittelständische Anbieter einen gewissen monopolistischen Handlungsspielraum verschaffen. Wie kann man sich als kleiner Kapitalist in eine solche komfortable Position bringen? Man muss versuchen, sich von den Produzenten und Anbietern gleicher Produkte zu unterscheiden, selbst wenn dies nur geringfügig oder dem Schein nach gelingt. Produktdifferenzierung heißt das Zauberwort. Eine Ware wird in unterschiedlichen Qualitäten, Ausführungen, Versionen, Modellen, Größen, Farben und so weiter hergestellt. Sie ist heterogen, das heißt verschiedenartig. Oft reicht, dass sie es nur in der künstlich von außen erzeugten Einbildung der Verbraucher ist, um die gewollten Käufe auszulösen. Der – manchmal nur eingebildete – Produktunterschied besteht vielleicht nur in der Art der Verpackung, im Kundendienst, im Standort des Unternehmens und der vermeintlichen Herkunft: Milch aus dem Allgäu, gezeugt von »glücklichen« Kühen, Kartoffeln vom Biobauer nebenan, Schweizer Käse und Uhren, französischer Cognac, Rum aus Jamaika, Whisky aus schottischen Fässern, Krimsekt und russischer Kaviar, kubanische Zigarren oder original Spreewälder Gurken (aus Hongkong) und kanadischer Wildlachs (aus thailändischen Zuchttümpeln).
Markenartikel besitzen den Ruf, besser zu sein als vergleichbare Produkte, die kein Markenetikett tragen. Ihre Qualität ist jedoch keineswegs immer höher als die von markenloser Ware und der Schaden, den sie stiftet, nicht niedriger. Produktdifferenzierung und Produktkonkurrenz ermöglichen Extraprofite, wenn die Nachfragenden überzeugt werden können, dass es sich um ein Gut handelt, dessen Eigenschaften besser sind als die der Konkurrenzprodukte. Bekannte Marken – Meißner Porzellan, Coca-Cola, Nivea, Levi’s Jeans –, feine Geschäfte, nette Verkäuferinnen, freundlicher Kundendienst ermöglichen höhere Preise, als wenn das gleiche Gut unter wenig geschätzten Umständen verkauft wird, im Ramschladen oder an der Straßenecke. Das Konzept geht auf, wenn es gelingt, durch massive Werbung und Bearbeitung der Öffentlichkeit – Public Relations – ein »akquisitorisches Potential« zu erschließen, das heißt eine Zielgruppe zu finden, deren Mitglieder von der Einzigartigkeit des angebotenen Produkts überzeugt werden können. Stellt ein Produzent Zahncreme mit Kümmelgeschmack her und findet genügend »Kümmelfans«, die ihm treu in seine Nische folgen, ist es ihm geglückt, eine Art »Monopolist« zu sein. Er hat ein Produktmonopol geschaffen, kann alle Vorteile des Monopolisten, wenn auch in kleinerem Maße, nutzen, insbesondere eine gewisse Zeit Extraprofite einheimsen. Übertreiben darf er dabei nicht. Glaubt er, seinen Kunden zu hohe Preise zumuten zu können, muss er damit rechnen, dass seine »Stammkundschaft« ihn verlässt und sich günstigere Kaufgelegenheiten sucht. Wichtig ist, dass kleine und mittlere Kapitalisten quasimonopolistische Extraprofite nur dann erreichen, wenn sie die Öffentlichkeit überzeugen, dass sich ihre Produkte grundlegend von denen der Konkurrenz unterscheiden. »Millionen kleiner Geschäftsleute arbeiten fieberhaft, um ein kleines Stück monopolistischer Extraprofite zu erwerben. Millionen von Konkurrenten strengen sich genauso an, ihnen die Zusatzgewinne wieder abzujagen; keiner schafft es, sich Zusatzgewinne langfristig zu erhalten. Jeder kämpft in dieser nimmer enden wollenden Auseinandersetzung gegen jeden, in der es keine Sieger geben kann. Millionen von Unternehmen produzieren fast nie die wirtschaftlichste, kostengünstigste Menge; Milliardensummen werden beim Verbreiten sinnloser und nervtötender Werbeparolen verschleudert.«4
Verschleudert wird Geld auch für diverse Prozesse, mit denen sich Konkurrenten bekriegen. Sie leben in dauernder Sorge, dass die Kunden ihre Produkte verwechseln könnten. Dann wäre das Monopol futsch. Ein schönes Beispiel ist das Risiko, dass Schokoladenosterhasen verwechselt werden könnten. Der Süßwarenhersteller Lindt und Sprüngli warf seinem bayerischen Konkurrenten, der Confiserie Riegelein, vor, dass dessen in Goldfolie gewickelter Schokoladenhase zu sehr dem eigenen Produkt ähnele. Der Lindt-Goldhase wird seit Beginn der 1950er Jahre hergestellt und mit einem Millionenaufwand beworben. Die Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main besahen sich die süßen Häslein von allen Seiten. Sie kamen nach langer, gründlicher Prüfung zum Ergebnis, dass keine Verwechslungsgefahr bestehe. Der sitzende Riegelein-Hase hat eine aufgemalte bräunliche Schleife, sein Goldton ist etwas dunkler; der Lindt-Goldhase trägt ein echtes rotes Halsband mit Glöckchen. Doch Lindt gab sich damit nicht zufrieden, verlangte weiter, dass der Riegelein-Osterhase aus den Verkaufsregalen verschwinden solle. Daraufhin nahm der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe die Hasen unter die Lupe und befand im Juli 2010, die Richter in Frankfurt hätten nicht hinreichend begründet, dass die Streithasen unverwechselbar seien. Lustig, aber es ging um viel Geld. Allein der Streitwert für die Revision beim BGH wurde auf 450.000 Euro festgesetzt. Drei Jahre später bestätigten die obersten Richter in Frankfurt nach nochmaliger strenger Betrachtung der beiden Häschen ihr Urteil. Im April 2013 – rechtzeitig zum Osterfest – beendeten sie den jahrelangen Goldhasenstreit in Deutschland und lehnten zur Freude von Riegelein ein Monopol der Firma Lindt ab. Österreichs oberster Gerichtshof dagegen hatte 2012 Lindt und Sprüngli recht gegeben. Das österreichische Familienunternehmen Hauswirth darf seinen goldverpackten Hasen wegen Verwechslungsgefahr mit dem jüngeren Lindt-Kollegen nicht mehr verkaufen.
Ähnlich heiter geht’s auch im Streit um andere Produkte zu. Das Bielefelder Unternehmen Dr. Oetker klagte gegen Aldi Süd und verlangte ein europaweites Verkaufsverbot für dessen Schoko-Vanille-Pudding »Flecki«, der zu stark dem eigenen Produkt »Paula« ähnele. Dr. Oetkers Erfolgspudding »Paula« wird seit 2006 mit einer Comic-Kuh mit Sonnenbrille vermarktet. Im breiten Angebot der Kinder-Fertigdesserts soll sie einen beachtlichen Marktanteil von 10,5 Prozent haben. »Flecki« wird von Aldi Süd ebenfalls mit Hilfe einer Comic-Kuh vermarktet, die statt Sonnenbrille Blümchen und Kuhglocke trägt. Beide Produkte bestehen jeweils aus Schoko- und Vanillepudding. Hervorstechendes Merkmal beider Produkte sind die Flecken. Das Landgericht Düsseldorf entschied 2012 zugunsten von Aldi. Sowohl beim Geschmack als auch beim Herstellungsverfahren gebe es keine Verwechslungsgefahr, stellten die Juristen nach eingehender Prüfung fest. Die »Flecki«-Flecken seien im Gegensatz zu den »Paula«-Flecken »ohne aufsteigende Bewegung und ohne Dynamik«.
Manchmal geht es nicht um Qualität und Leistung, sondern um die Farbe. Zwei Banken sahen jahrelang rot. Die Sparkassen und die spanische Santander-Bank bekämpften sich sieben Jahre lang. Die Sparkassen hatten sich ihr Rot seit 2007 als Marke gesichert. Santander beanspruchte die Farbe für sich. Sie stehe für Führungsanspruch, Entschlossenheit, Stärke und Leidenschaft – angeblich die Grundeigenschaften aller Banker. Der Bundesgerichtshof entschied 2016 zugunsten der Sparkassen, nachdem ein Jahr zuvor das Bundespatentamt dem Antrag von Santander stattgegeben hatte, die Sparkassen-Marke zu löschen. Die Farbmarke – das Rot, in der Fachsprache der Drucker »HKS 13« genannt – bleibt für die Sparkassen in Deutschland geschützt. Millionen Sparer, die seit Jahren ihr Geld der Bank zinslos leihen, sind glücklich. Wenn es schon keine Zinsen gibt, bleibt ihnen wenigstens das Rot erhalten. Santander verzichtete dennoch nicht auf Rot, hält es nun aber eine Nuance dunkler (HKS 14).
Anmerkungen
1 Wilhelm Röpke: Civitas humana: Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach/Zürich 1949, S. 80 f.
2 W. I. Lenin: Werke, Bd. 22, S. 270
3 Ebd., S. 210
4 Emery Kay Hunt und Howard J. Sherman: Ökonomie aus traditioneller und radikaler Sicht, Band 1, Frankfurt/M. 1974, S. 94 f.
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